Leipzig/Köln, 1. Dezember 2011 (ADN). Verschleiern, Wegsehen, Ignorieren. Die richtige Wortwahl zu treffen, fiel Dr. Heribert Schwan am Mittwochabend in Leipzig schwer. Der ausgewiesene Kenner der Personalia Hannelore und Helmut Kohl kann nur vermuten, was die Familie des Ex-Bundeskanzlers bewogen hat, die Biographie des glühenden Nationalsozialisten und hochdotierten Wirtschaftsführers Wilhelm Renner lebenslänglich und kunstvoll zu umschiffen. „Seit 1933 war er Mitglied der NSDAP und es gibt keine Belege dafür, dass sich Hannelores Vater vom völkisch-rassistischen Antisemitismus seiner Partei in irgendeiner Weise distanziert hätte“, zitierte Schwan aus seinem in diesem Jahr erschienenen Buch „Die Frau an seiner Seite – Leben und Leiden der Hannelore Kohl“. Renner war Direktor in der HASAG AG, einem der größten Rüstungskonzerne in Nazi-Deutschland. Dort wurde Munition und die berühmt-berüchtigte Panzerfaust entwickelt und hergestellt – vor allem durch massenhafte Zwangsarbeit. „Von den ungefähr 22.000 KZ-Häftlingen, die bis zum Ende des Krieges die deutschen Lager der HASAG passierten, wurden nach neuesten Erkenntnissen 20 bis 30 Prozent ermordet. Insgesamt arbeiteten in den deutschen und polnischen Betrieben des HASAG-Konzerns mindestens 60.000 KZ-Häftlinge und sogenannte Àrbeitsjuden`. Das waren mehr als bei den mächtigen IG Farben. Gesichert sei, so berichtete Schwan bei der von der Gedenkstätte für Zwangsarbeit veranstalteten Buchlesung weiter, dass 32.000 dieser Frauen und Männer starben: am Arbeitsplatz, im Lager, durch Erschießungen im Anschluss an „Selektionen“ oder auf den Todesmärschen. Nach den Worten von Schwan haben Forscher festgestellt, dass sowohl qualitativ als auch quantitativ die HASAG dasjenige Unternehmen war, das stärker als alle anderen privatwirtschaftlichen Betriebe den skrupellosen Einsatz und Mord von KZ-Häftlingen und „Arbeitsjuden“ betrieb. Wilhelm Renner trug dafür maßgebliche Verantwortung und wurde bis zu seinem Tod 1952 dafür niemals zur Rechenschaft gezogen. Er flüchtete nach Kriegsende mit seiner Familie kurz vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen aus Leipzig in die französische Besatzungszone.

Nach Ansicht von Schwan kommen auch permanente Verdrängung in Höchstpotenz oder vielwissendes Verschweigen als Kriterien in Betracht, um den erstaunlichen Umgang des Historikers Helmut Kohl mit der nationalsozialistischen Vergangenheit seines Schwiegervaters zu erklären. Bloße Unkenntnis dürfte als wenig glaubhafte Ursache nicht zu vermitteln sein, zumal sich Kohl in seinen Memoiren geradezu uferlos in Schilderungenm über sein eigenes Elternhaus und deren Vorfahren ergeht. Zu seinen Schwiegereltern jedoch fallen bestenfalls zwei, drei harmlose Sätze.

Die frappierend einseitige Sichtweise des Spitzenpolitikers Kohl, der die Bundesrepublik Deutschland 16 Jahre lang regiert hat, sich als der Geschichte verpflichtete Person betrachtet und das geflügelte Wort von der „Gnade der späten Geburt“ prägte, lässt auf eiskaltes Machtkalkül schließen. Dies dominierte wohl die generelle Stimmungslage im Hause Kohl, unter der Ehefrau Hannelore immer mehr litt und sie letztlich in den Selbstmord getrieben hat.

Der Kölner Heribert Schwan, langjähriger Fersehjournalist beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) und Redakteur beim Deutschlandfunk, würdigte die für seine Recherchen wichtigen Untersuchungen der Leipziger Wissenschaftler Klaus Hesse und Mustafa Haikal. Der eine beschäftigt sich intensiv mit der Rüstungswirtschaft in Leipzig während des Dritten Reiches, der andere widmete sich eingehend mit der Historie des Helmholtz-Zenmtrums für Umweltforschung Leipzig(UFZ). In dessen denkmalgeschütztem Hauptverwaltungsgebäude, das ehemals die HASAG-Zentrale beherbergte und in dem Wilhelm Renner ein- und ausging, fand auch die Lesung statt. ++ (dr/mgn/01.12.11 – 25)

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