Archive für Beiträge mit Schlagwort: Rechtsgeschichte

Zürich/Seifhennersdorf, 25. Januar 2015 (ADN). Seit 1990 wurden in Sachsen mehr als 1.000 Schulen geschlossen. Betroffen war auch die Gemeinde Seifhennersdorf im Kreis Görlitz. Die Schließung war von der Kreisverwaltung veranlasst worden, schreibt Karl Müller in der jüngsten Ausgabe der Schweizer Wochenzeitung „Zeit-Fragen“. Die Gemeinde habe kein Mitentscheidungsrecht gehabt. Sie wehrte sich gegen die Stillegung der Dorfschule. Sie tat das auch auf dem Rechtsweg und klagte gegen das sächsische Schulgesetz und die darin vorgeschriebene Schulnetzplanung. Nun haben die Bürger von Seifhennersdorf Recht vor dem Bundesverfassungsgericht bekommt, das die betreffenden Regelungen für verfassungswidrig erklärte. Nach den Worten von Müller haben die Seifhennersdorfer damit bundesdeutsche Rechtsgeschichte geschrieben. Das sei ein wichtiger Impuls für die kommunale Selbstverwaltung – vergleichbar mit der Schweizer Gemeindefreiheit oder Gemeindeautonomie. Die kommunale Selbstverwaltung habe in Deutschland eine lange Tradition. „Sie ging von den preussischen Reformern im beginnenden 19. Jahrhundert aus. Ihr Mentor war Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein. Nach der nationalsozialistischen Diktatur, der Gleichschaltung aller staatlichen Ebenen und der Zentralisierung der politischen Macht war es für die Verfasser des bundesdeutschen Grundgesetzes ein oberstes Gebot, eine erneute Machtanballung in den Händen weniger zu verhindern und den Staat möglichst dezentral und bürgernah aufzubauen“, schreibt der Autor. Dabei sei es nach dem Krieg vor allem darum gegangen das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden eng mit bürgerschaftlichem Engagement zu verzahnen.  ++ (ks/mgn/25.01.15 – 25)

http://www.adn1946.wordpress.com, e-mail: adn1946@gmail.com, Redaktion: Matthias Günkel (mgn), adn-nachrichtenagentur, SMAD-Lizenz-Nr. 101 v. 10.10.46

Werbung

London/München, 2. September 2013 (ADN). Großbritannien wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Muster eines modernen demokratischen Staatsgebildes angeführt. Nun teilte die britische Journalistin Kate Connolly in einem Gastbeitrag zu Wochenbeginn in der „Süddeutschen Zeitung“ mit, dass Großbriannien gar keine Verfassung hat. Die überraschende Nachricht ist im Nebensatz eines Kommentars versteckt, in dessen Vordergrund der sehr unterschiedliche Umgang mit geheimdienstlicher Überwachung durch den bundesdeutschen und britischen Staat bewertet wird. Während sich in Großbritannien die Leute viel weniger über die totale und allumfassende Überwachung aufregten, sei die deutsche Perspektive eine andere. „Die Erfahrungen aus zwei Diktaturen im vergangenen Jahrhundert haben die Gesellschaft mit einem tiefen Misstrauen gegen Schnüffler ausgestattet. Und anders als Großbritannien, wo es keine Verfassung gibt, sieht das Grundgesetz die sorgfältige Prüfung von staatlicher Beobachtung vor“, schreibt die für die Zeitungen „Guardian“ und „Observer“ in Deutschland arbeitende Pressevertreterin.

Wer dem Staatswesen auf den britischen Inseln näher auf den Grund geht, kommt schnell zu höchst interessanten Erkenntnissen. So teilen die Kenner der Szene Günther Doeker und Malcolm Wirth in „Das politische System Großbritanniens“ Folgendes mit: „In der wissenschaftlichen Literatur zum britischen Regierungssystem wird vielfach festgestellt, dass es eine geschriebene britische Verfassung nicht gebe. Wenn man davon ausgeht, dass eine Verfassung ein zusammenhängendes und kompaktes Dokument im Sinne kontinentaleuropäischer Verfassungstheorie und -praxis ist – wie etwa das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland oder die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika – dann ist diese Feststellung zutreffend.“ Die den britischen politischen Entscheidungsprozess fundamental tragenden verfassungsrechtlichen und -politischen Prinzipien werden in sechs Grundnormen zusammengefasst. Als erste wird diejenige genannt, dass das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland – so lautet die verfassungs- und völkerrechtliche Bezeichnung des Inselreichs – eine konstitutionelle Monarchie ist.

Großbritannien habe auch sonst eine vollständig andere Rechtsauffassung und Rechtsgeschichte als die kontinentaleuropäischen Staaten. Während auf dem Kontinent die meisten Gesetze aus der Zeit nach 1945 bzw. nach 1918 stammen, sei es in Großbritannien auch heute noch üblich, in Gesetzen aus dem 18. und 19. Jahrhundert Änderungen vorzunehmen oder solche Gesetze aufzuheben, ist einer diesbezüglichen Internet-Homepage zu entnehmen.

„So hat das Schottische Parlament erst kürzlich ein Gesetz aus dem Jahr 1341 (!!!) aufgehoben und in den „Rechtbereinigungsgesetzen“ (Statute Act), die fast jährlich durch das Parlament verabschiedet werden, werden stets älteste Gesetze aufgehoben; Teile der geltenden Geschäftsordnung (Standing Orders) des House of Commons stammen aus dem Jahr 1707 und große Teile der geltenden Geschäftsordnung (Standing Orders) des House of Lords sind aus dem Jahr 1621″, ist dort zu lesen. ++ (gr/mgn/02.09.13 – 240)

http://www.adn1946.wordpress.com, e-mail: adn1946@gmail.com

Leipzig/Hannover/München, 24. Januar 2012 (ADN). Pünktlich zum 300. Geburtstag von Friedrich dem Großen rücken preußische Tugenden ins Rampenlicht und bieten Christian Wulff die notwendigen juristrischen Strohhalme, um sich seiner verzwickten Lage zu entziehen. Heribert Prantl erläutert in der heutigen Dienstagausgabe der „Süddeutschen Zeitung“, wie sich der Bundespräsident mit einer Selbstreinigungsklage beim Staatsgerichtshof zu befreien versuchen  könnte. Der Absatz 3 des Artikels 40 der niedersächsischen Landesverfassung könnte Wulff dem Ansinnen seiner politischen Gegner entrinnen lassen. Sie wollen dem Bundespräsidenten  mit Hilfe des ersten Absatzes dieses Artikels – einer „Anklage von Regierungsmitgliedern“ – ein juristisches Bein stellen. Dem könnte Wulff unter Berufung auf den dritten Absatz zuvorkommen. Der sieht eine Selbstreinigungsklage vor, die im Übrigen mit keiner besonderen Hürde verbunden ist.

Derartiges ist ein sehr selten angewandtes, fast verschollenes juristisches Instrument, das zu Zeiten der Weimarer Republik einmal eingesetzt wurde. Am 20. Juli 1932 ist es als sogenannter „Preußenschlag“ in die Rechtsgeschichte eingegangen. Damals sollte mittels Artikel 59 der Weimarer Reichsverfassung, mit dem gegen Reichspräsident, Reichskanzler oder Reichsminister Anklage beim Staatsgerichtshof in Leipzig  erhoben werden konnte, die preußische Regierung abgesetzt werden. Der Erfolg war mittelmäßig. Für Preußen wurde infolge der Auseinandersetzung ein Reichskommissar bevollmächtigt.

Ähnliche Regelungen wurden nach 1945 in die Landesverfassungen einiger alter Bundesländer aufgenommen, um gegen Staatsverbrechen wirksam vorzugehen. Ihre Anwendung wurde ebenfalls sehr selten praktiziert: in Niedersachsen scheiterte Oppositionsführer Christian Wulff damit zweimal – 1999 und 2001. Ein weiteres noch sehr aktuelles Beispiel lieferte Rheinland-Pfalz. Dort haben vor fast einem Jahr 37 CDU-Abgeordnete und 10 FDP-Abgeordnete dieses schwere Geschütz aus der Versenkung geholt und gegen den SPD-Juistizminister Heinz Georg Bamberger in Stellung gebracht. In ihrem Antrag vom 22. Februar 2011 heißt es: „Bamberger hat am 22.  Juni 2007 in seinem Dienstzimmer die Ernennungsurkunde für das Amt des Präsidenten des Oberlandesgerichts Koblenz an den ausgewählten Bewerber unmittelbar nach Zustellung der Beschwerdeentscheidung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz ausgehändigt, obwohl ihm zuvor der unterlegene Bewerber seine Absicht mitgeteilt hatte, das Bundesverfassungsgericht anzurufen…. Nach alldem ist eine Ministeranklage vor dem Verfassungsgerichtshof geboten, die im Falle einer Verurteilung die Entlassung nach sich zieht.“ Letztlich wurde der Antrag mit knapper Mehrheit der SPD-dominierten Mehrheit im Mainzer Landtag abgeschmettert.

Einen zusätzlichen Impuls für dieses „Institut der Präsidenten- und Ministeranklage“ löste ein Hannoveraner Rechtswissenschaftler aus. Erst vor wenigen Monaten holte Sebastian Steinbarth diesen Sachverhalt aus der rechtshistorischen Mottenkiste und analysierte dessen Wahrheiten umfassend. In seiner 2011 abgeschlossenen und erfolgreich an der Juristischen Fakultät der Leibniz-Universität Hannover verteidigten Promotion beleuchtet er dies unter „rechtshistorischer und rechtsvergleichender Perspektive“.  Auf 336 Seiten untersuchte Steinbarth „Ursprünge, Erscheinungsformen und bleibende Sinnhaftigkeit von Gerichts- und Impeachementverfahren gubernativer Verantwortlichkeit“. Gewiss wird die Schrift demnächst vergriffen sein. ++ (jr/mgn/24.01.12 – 24)