Berlin, 6. Oktober 2013 (ADN). Die Theorie vom „deutschen Sonderweg“ spielte eine Schlüsselrolle im Geschichtsdenken der alten Bundesrepublik. Sie hob Deutschlands Demokratiedefizite im Vergleich mit Großbritannien oder Frankreich hervor. Zur Erklärung wurde auf das Obrigkeitsdenken seit Luther, auf den preußischen Militarismus und die gescheiterte Revolution von 1848 verwiesen. Das teilt der Historiker Ulrich Sieg von der Philippps-Universität Marburg in einem Beitrag der Oktober-Ausgabe des Magazins „Cicero“ mit. Das Kaiserreich sei als autoritärer Nationalstaat missverstanden worden. In ihm sei es zu keiner nennenswerten Beteiligung der Bürger gekommen. „Mittlerweile hat sich dies als zu einseitig herausgestellt“, so Sieg. Es habe im Kaiserreich sehr wohl eine politische Kultur mit hoher Wahlbeteiligung und lebendigen Debatten gegeben, die auch im Ausland positiv wahrgenommen wurden.

Der Dozent für Neueste Geschichte schätzt ein, dass im „Westen“ nicht alles Gold war, was glänzte. Zu erinnern wäre an die unnachgiebige Härte, mit der die britische Oberschicht ihre Privilegien verteidigte. Ähnliches gelte für den massiven französischen Antisemitismus zur Zeit der Dreyfus-Affäre.

„Es heißt, das Kaiserreich trage die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg. Moralische Urteile aber garantieren keine Erkenntnisse. Argument und Abwägung müssen zurückkehren“, so fordert der Geschichtswissenschaftler. Die 100jährige Wiederkehr des Ersten Weltkriegs im nächsten Jahr biete eine vorzügliche Gelegenheit, um sich solchen grundsätzlichen Fragen intensiv zu widmen. ++ (vk/mgn/06.10.13 – 273)

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